Nierstein,  Politik & Gesellschaft

Kommentar zur Einkaufssituation in Nierstein

Blick über Nierstein. (Foto: Andreas Lerg)
Nahezu mein ganzes Berufsleben habe ich im und für den Einzelhandel gearbeitet. Über die Einkaufsituation in Nierstein, deren Ursachen und Perspektiven – müsste – könnte ich eine längere Abhandlung schreiben. Hier nur kurz vier Anmerkungen.

1. Ein Discounter oder ein Supermarkt mit Vollsortiment lässt sich heute nicht unter 900 bis 1200 qm rentierlich betreiben. Dazu gehören wenigstens 50 bis 60 Parkplätze und die Möglichkeit das Geschäft im sogenannten Nachtsprung mit einem großen Sattelzug zu beliefern. Das ist in Nierstein wegen der nächtlichen Lärmbelastung und der Enge des Ortskerns nicht möglich. Ein Vollsortimentladen wird in der Regel zwei mal pro Woche im Trockensortiment von Sattelzügen und weitere zwei bis drei mal mit Frischeartikeln auf kleineren LKW beliefert.

2. Die Mobilität und die Einkaufgewohnheiten haben sich rasant geändert. Wie in der AZ schon mehrfach berichtet, fahren die Kunden in die großen Verbrauchermärkte oder Einkaufzentren z.B. nach Mainz, Darmstadt und Wiesbaden oder in die an der Peripherie von Nierstein oder Oppenheim gelegenen Discounter und Supermärkte, um dort ihre Großeinkäufe für den täglichen Bedarf zu tätigen. Im Ortskern wurden dann nach meinen Beobachtungen nur noch kleine und kurzfristige „Ersatzbeschaffungen“ getätigt. Ein Blick auf den durchschnittlichen Einkaufsbon bestätigt das. Mit diesem geringfügigen Umsatz kann man kein Geschäft betreiben! Wobei die Ladenöffnungszeiten, die Personalfragen und die Personalentlohnung ein Seiten füllendes Thema wären. Alle schreien nach Mindestlöhnen. Gut so! Aber woher die vor dem Hintergrund „Geiz ist geil!“ kommen sollen, interessiert die Wenigsten. Für die Entblößung einer ehemals liebens- und lebenswerten Altstadt ist Oppenheim das negative Beispiel schlechthin.

3. Ein ganz kleiner Blick auf die Demographie. Wer sind die Leid tragenden und die Gekniffenen in dieser Situation? Das sind ganz eindeutig, wie in vielen Lebenssituationen, die alten Leute, die nicht mobil sind und die technisch nicht so versiert sind mit einem PC umzugehen. Deren Lebensqualität wird mehr und mehr eingeschränkt. Sollen die demnächst den ganzen Tag vor der Glotze hocken? Geschäfte hatten immer auch kommunikativ-soziale Funktionen. Die gehen mehr und mehr verloren. Leider! Auch dieses Thema wäre einer besonderen Betrachtung wert. So wurde schon vor langer Zeit in Nierstein die Postfiliale geschlossen, die Banken schränken ihr Serviceangebot ein (wer kein Homebanking macht, zahlt drauf oder läuft sich die Füße wund), ein Textilgeschäft gibt es schon lange nicht mehr, etc.. Seitens der Verwaltung wurde der Bürgerbus installiert. Ein Schritt in die richtige Richtung.

4. Die Schuld an der ganzen Misere auf unsere Politiker zu schieben wäre falsch. Wenngleich etliche Weichen aus meiner Sicht in der Vergangenheit falsch gestellt wurden. Die wahren Gründe dafür, dass es im Ortskern von Nierstein kein Lebensmittelgeschäft mehr gibt, liegt im Einkaufsverhalten der Einwohner. Die Leute sollen endlich aufhören zu jammern. An der Einkaufsituation im Ortskern tragen sie ein gerüttelt Maß selbst schuld.

Karl-Arnold Lerg
Nierstein

2 Comments

  • Max

    Ein weiterer Faktor ist vermutlich auch die Entwicklung von Gewerbegebieten. Ich denke hier mal zurück an früher, als meine Eltern regelmäßig im Dorfladen in Bechtolsheim eingekauft haben. Dieser ist nun schon seit einigen Jahren geschlossen. Die Konkurrenz des HL in Gau Odernheim wurde zu groß. Dann wurde der HL in Gau Odernheim auch geschlossen. Später zog ein MiniMal ein. Bis dahin waren das die beiden einzig gut sortierten Geschäfte der Gegend.

    Zeitsprung in die Gegenwart. Wir haben nun einen wahren Überlauf an Supermärkten: Lidl, Edeka, Penny, Rewe. Alle diese Märkte haben viele Faktoren gemeinsam: ORTSRAND GELEGEN, IN EINEM „Möchtegern-Industriegebiet. Ein überfluss an Sortiment (5 Sorten Hackfleisch, dann nochmal 3 an der Fleischtheke und nochmal das Ganze als „Bio“). Wenn die Bürger von den großen Ketten mit einer riesigen Auswahl an Billigprodukten überflutet werden, wenn „Bio“ in jedem Regal und nicht mehr nur beim Bauern zu finden ist, wie sollen die kleinen „traditionellen“ Dorfläden und Bauernhöfe bei diesem Dumpingpreis-Wettrennen noch mithalten? Da interessiert es die Chefs von Rewe nicht, ob sie gnadenlos die Familiengeschäfte plätten. Und was ist das Resultat? Die nette Dame, die bis vor einigen Jahren ein gemütliches kleines Tante-Emma-Lädchen auf dem Dort in Eigenregie betrieben hat, sitzt heute bei Rewe an der Kasse.

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